Meldungen aus dem Bezirksverband Arnsberg
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Tag des offenen Denkmals: (Geh-)denken auf dem historischen LWL-Friedhof

Die LWL-Einrichtungen Marsberg haben in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. eine Führung über den historischen Friedhof auf dem Gesundheitscampus Bredelarer Straße angeboten

Am Grab von Maria M. B.. Julia Hollwedel

Marsberg. Der Monat September steht ganz im Zeichen von Kriegsgräbern. Auf über 2.100 Kriegsgräberstätten in Nordrhein-Westfalen sind mehr als 330.000 Tote der Weltkriege bestattet. Eine Aufgabe des Volksbunds ist es, die Geschichte(n) „hinter den Grabsteinen“ zu ermitteln und zu erforschen, um sie an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Der Volksbund hatte eingeladen, Kriegsgräberstätten als Gedenk- und Erinnerungsorte wieder oder neu zu entdecken. Die Opfer der Kinder-„Euthanasie“ zählen zu den Kriegstoten. Ihre Gräber besitzen dauerndes Ruherecht. 

Bildungsreferentin Vanessa Schmolke und Julia Hollwedel, Beauftragte für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Marsberger LWL-Einrichtungen, führten rund 10 interessierte Teilnehmer zum historischen Friedhof. Vanessa Schmolke erinnerte in einem kurzen Vortrag an die dunkle Geschichte des Friedhofs.

Im Nationalsozialismus wurde eine Abteilung des St.-Johannes-­Stiftes, Vorgänger des LWL-­Klinikums Marsberg, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie des LWL-­Wohnverbundes Marsberg, zu einer „Kinderfachabteilung“ des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“. In den folgenden Monaten wurden dort etwa 50 Kinder und Jugendliche durch die überdosierte Gabe von Medikamenten gezielt betäubt und getötet. Dazu kamen regimetreue Schwestern, die sogenannten „braunen Schwestern“, von Berlin nach Marsberg. Unruhe in der Bevölkerung machte sich breit. 1941 wurde die „Fachabteilung“ in Marsberg geschlossen und nach Dortmund-­Aplerbeck verlegt.

Ein drei mal drei Meter großes schwarzes Quadrat aus acht Zentimeter starkem Stahlrohr umrahmt und betont heutzutage den Eingang zum Friedhof. Er trägt die Inschrift: „Hier und da, 1940–2004“. Die von der Bildhauerin Astrid Raimann gestaltete Installation ist im Sinne von Konzeptkunst keine Arbeit, die als Kunstwerk für sich steht, sondern findet ihren Sinn in der Wirkung, die sie auf die Wahrnehmung der Besucherinnen und Besucher ausübt. Die Aufmerksamkeit wird auf den Moment des Übergangs gelenkt. Man durchschreitet die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Lebenden und Toten, Gesunden und Kranken, „Normalen“ und „Verrückten“, denen, die dazugehören, und den „Lebensunwerten“, wie es damals hieß.

Um die Schicksale der in Marsberg begrabenen Kinder und Jugendlichen vor dem Vergessen zu bewahren, war Vanessa Schmolke im LWL-Archivamt für Westfalen in Münster und hat über 50 Patientenakten gesichtet. Darunter die Akte von Maria M.B., deren Grabstein auf dem Marsberger Friedhof unweit des Gedenksteins zu finden ist. „Die Biografie von Maria M. B., geboren am 23. Mai 1934 im westfälischen Hamm, steht stellvertretend für so viele Lebensläufe zu jener Zeit. Ihr Vater war Steiger im Bergbau“, so Vanessa Schmolke. „Mit 10 Monaten erkrankte Maria an einer Lungenentzündung, auf die eine eitrige Hirnhautentzündung folgte.“ Daraufhin sei sie „geistig zurückgeblieben.“ 

Zwischen August 1938 und August 1940 erfolgten mehrere Untersuchungen in der Nervenklinik Münster: Vanessa Schmolke zitierte aus der Akte: „Körperlich dem Alter entsprechend entwickelt; geistig: Unruhig und unsauber. Meldet sich nicht beim Bedürfnis. Unmanierlich. Stopft alles Mögliche wie Steine, Gras und Unrat in den Mund. Muss beaufsichtigt und gefüttert werden, weil sie sonst alles wieder ausspuckt und auf die Erde wirft. Spricht kein Wort, weint viel, bringt nur unartikulierte Laute hervor.“ Die damaligen Ärzte stellen wegen „völliger Verblödung“/“Idiotie nach Meningitis“ eine „Anstaltsbedürftigkeit“ fest.  Ein geistiger Fortschritt werde nicht erwartet. Am 20. September 1940 erfolgt im Alter von 6 Jahren Marias Einweisung in das St. Johannis-Stift Marsberg. Wenige Tage später bekommen die Eltern einen Brief aus Marsberg: Ihre Tochter habe sich gut eingelebt und kein Heimweh; körperlich ginge es dem Kind gut, es bestehe kein Grund zur Sorge. Am 3. Juli 1941 stirbt Maria um 12:20 Uhr. Als Todesursache wird eine doppelseitige Lungenentzündung angegeben.

„Pneumonie/Lungenentzündung, Herzmuskelschwäche und epileptische Anfälle sind typische Diagnosen, die oft angegeben wurden, um die gezielte Ermordung zu verschleiern“, betonte Vanessa Schmolke während ihres Vortrags. Im Anschluss an die Führung wurde ein Kranz niedergelegt. Mit einem letzten bewegenden Gruß: „Unvergessen.“ 

Text und Bilder: Julia Hollwedel und Vanessa Schmolke
 

Hintergrund

Wer mehr zum Thema „Euthanasie“ erfahren möchte: Gedenkort T4